Die Schnecke
Es war ein Abend mitten in der kühlen Jahreszeit. Auf den Feldern vor Bethlehem kroch eine kleine Schnecke ihres Weges, bedrückt von ihrem schweren Haus und von der Traurigkeit. Was vermochte sie schon auf der Welt, außer zu kriechen und zu fressen und unter der Last ihres Hauses zu leiden! Plötzlich spürte sie, wie der Boden erbebte. Ein Esel kam heran. Schwer war sein Schritt, denn er trug eine Last auf seinem Rücken – genau wie sie selbst – und neben ihm her ging ein Mann. Die kleine Schnecke kroch so schnell sie konnte, um fort vom Weg in Sicherheit zu gelangen. Doch sie war viel zu langsam. Schon konnte sie den Huf des Esels ganz dicht vor sich sehen. Beim nächsten Schritt würde er sie zermalmen. Doch dann hielt der Esel plötzlich inne. Er blieb stehen und blickte zu Boden. Ihre Blicke trafen sich und vorsichtig setzte er seine Hufe über sie hinweg.
Während der Esel über sie hinweg stieg, spürte die kleine Schnecke, dass er jemand ganz Besonderen auf seinem Rücken trug. Und sie hatte nur noch die eine Sehnsucht, zu erfahren, wer es sei. Ihr schien, ihr ganzes kleines Schneckenleben hinge davon ab. So machte sie sich daran, dem Esel zu folgen. So schnell sie konnte, kroch sie seiner Spur hinterher, aber das war sehr langsam, denn sie war ja eine Schnecke. Noch nie schien ihr Haus so schwer wie heute. Die ganze Last ihres Lebens schien darin zusammengeballt. Doch gerade, weil sie so schwer zu tragen hatte, musste sie dorthin, wohin der Esel gegangen war! Dessen war sie sich sicher. So trieb ihre Last sie an.
Es wurde Nacht und ein Stern ging am Himmel auf, ein Stern, wie ihn die Schnecke noch nie gesehen hatte. Nicht weit von ihr stand er am Himmel. Dort wo der Stern stand, würde sie den Esel finden und bei ihm den, den er getragen hatte. Dorthin würde sie kriechen, auch wenn es ihr ganzes Leben dauern sollte. Denn der Weg, so kurz er auch sein mochte, war für sie unendlich weit.
Plötzlich vibrierte die Erde erneut. Eine Gruppe Menschen kam heran, Hirten, wie ihr Schafgeruch verriet. Jetzt bloß nicht zertreten werden, nicht bevor sie den gesehen hatte, den der Esel trug! Als die Hirten ganz dicht bei ihr waren, fiel plötzlich ein Strahl Sternenlicht auf ihr Schneckenhaus. Ein kleiner Hirtenjunge bückte sich nach ihr. „Was für eine schöne Schnecke! Wie ihr Haus im Sternenlicht glänzt! Fast wie ein Edelstein!“, rief er und hob sie auf. „Die bringe ich dem Kind mit!“
Ängstlich hatte sich die Schnecke in ihr Haus zurückgezogen. Einem Kind sollte sie mitgebracht werden. Was das wohl bedeutete? Würde sie nun niemals dorthin gelangen, wohin der Esel gegangen war? Der Junge eilte mit ihr davon. Doch kurze Zeit später hielt er an und einer der Hirten rief: „Seht, genau über diesem Stall steht der Stern. Hier muss es sein. Hier werden wir das Kind finden, von dem der Engel uns erzählt hat.“ Sollte der Junge sie wirklich zum Stern, an ihr Ziel getragen haben? Die kleine Schnecke wagte es kaum zu hoffen. Vorsichtig streckte sie den Kopf aus ihrem Haus und sah sich um. Wirklich. Genau über ihnen stand der Stern. Und plötzlich spürte sie wieder die gleiche Kraft, die sie gespürt hatte, als der Esel über sie hinweg gestiegen war. „Habt ihr alle ein Geschenk für das Kind?“, fragte der älteste Hirte. Die Männer zeigten einander, was sie dem Kind mitbringen wollten. Ein Lammfell hatte der eine, eine Flöte ein anderer, einen Laib Brot der dritte. Der kleine Junge zeigte den anderen seine Hand, auf der sie saß. „Eine Schnecke?“, fragten die Hirten. „Du willst dem Kind allen Ernstes eine Schnecke schenken? Nein, das geht nicht. Hier hast du ein paar Oliven. Schenk ihm die!“ „Seht ihr denn nicht, wie schön ihr Haus im Sternenlicht leuchtet?“, verteidigte sich der Junge. „Da drinnen leuchtet aber kein Stern.“, wandte der alte Hirte ein. „Lass sie hier und nimm die Oliven!“ Der Junge seufzte und setzte die Schnecke neben der Stalltür auf die Erde. Die kleine Schnecke seufzte auch. Weniger wert als ein paar Oliven war sie also und, so nah sie auch am Ziel war, war sie doch noch längst nicht da. Der Weg in den Stall hinein war für sie weit und bei dem Kommen und Gehen, das hier herrschte, lebensgefährlich. Die kleine Schnecke nahm all ihren Mut zusammen und kroch Zentimeter für Zentimeter in den Stall hinein. Dort drinnen musste die besondere Last des Esels sein, ein Kind, wie die Hirten gesagt hatten. Sie hörte wie die Menschen und die Tiere, die den Stall verließen einander zuflüsterten: „Er hat mich angelächelt, er liebt mich!“, und sie sah, dass alle ein ganz besonderes Lächeln lächelten. So lächelt nur, wer sich geliebt weiß, dachte die Schnecke. Würde Er auch sie anlächeln? Würde Er auch sie lieben? Sie war ja nicht klug wie die Menschen, nicht wollig wie das Schaf, nicht geschmeidig wie die Katze, kein Sänger, wie das Rotkehlchen. Sie konnte nur kriechen und ihr viel zu schweres Haus mit sich schleppen. Wer würde so jemanden, der rein gar nichts konnte, anlächeln und lieben?
Es wurde schon morgen, als sie fast an der Krippe angekommen war, in der das Kind lag. Da stand die Frau, die in der Ecke des Stalls gesessen hatte, auf, um zu dem Kind zu gehen. Schon spürte die kleine Schnecke den Fuß der Frau über sich. Das war‘s, dachte sie. In diesem Leben wird mich niemand mehr anlächeln und lieben. Doch dann zog die Frau ihren Fuß sachte zurück, bückte sich und hob sie auf. Sie hielt die kleine Schnecke so vor die Krippe, dass das Kind und sie einander ansehen konnten. Der kleine Junge in der Krippe lächelte und die Schnecke lächelte auch, denn sie spürte, Er liebt mich. Nicht weil ich etwas besonderes kann oder bin, liebt Er mich, sondern einfach nur, weil ich bin. Sachte setzte die Frau sie wieder auf die Erde. Die Schnecke kroch davon und zum ersten Mal in ihrem Leben drückte ihr Haus sie nicht. Es war nicht leichter geworden, aber sie spürte, dass sie es nicht mehr alleine trug. Und das gab ihr fortan Kraft und trieb sie an.