Felix und Josh

In der Rosenstraße lebten viele Kinder. Wenn es nicht Bindfäden regnete oder stürmte, spielten sie miteinander in den Gärten hinter den Häusern. Sie spielten Fangen, Verstecken oder Völkerball, sprangen Seil oder Gummitwist. Es gab große Kinder, die schon elf Jahre alt waren, und kleine, die erst drei waren und von ihren älteren Geschwistern vor den Großen beschützt und verteidigt wurden.

Nur Felix saß immer am offenen Fenster seines Zimmers und sah den anderen beim Spielen zu. Felix war fünf Jahre alt und hatte keine Geschwister, die ihn hätten mitnehmen können. Nun könnte man meinen, dass ein fünfjähriger Junge alleine zum Spielen hinters Haus gehen kann … Felix jedoch konnte das nicht. Er hatte eine seltene Krankheit, die seine Muskeln immer schwächer werden ließ. So konnte er weder laufen, noch selber mit den Armen die Räder seines Rollstuhls antreiben. Die Krankheit sorgte auch dafür, dass er nicht so klug war, wie die anderen Kinder. Er kannte nicht so viele Wörter wie sie und zählen konnte er auch noch nicht. Aber fühlen konnte er. Und er fühlte sich oft einsam. Er wollte so gerne wie all die anderen Kinder sein und mit ihnen laufen, lachen und schreien.
Die anderen Kinder sahen Felix im Fenster sitzen. Manche lachten über ihn, weil sie gehört hatten, er sei dumm. Anderen tat er leid, weil sie sich vorstellten, wie schlimm es für sie wäre, nur zuschauen und niemals mitspielen zu können, und wieder andere dachten gar nichts und nahmen ihn wahr, als sei er ein Möbelstück, das jemand hinters Fenster gestellt hat.

Eines Tages zog eine neue Familie in die Rosenstraße. Familie Sohn.
Josh, der Sohn der Sohns, war sieben Jahre alt und ging in die erste Klasse. Schnell hatte er die anderen Kinder in den Gärten hinter dem Haus kennengelernt. Alle mochten Josh, denn er konnte schnell rennen und gut Ball spielen und war bei allen Spielen fair.
Anfangs war Josh ganz damit beschäftigt, seine neue Umgebung und seine neuen Spielkameraden kennenzulernen. Nach ein paar Tagen jedoch, als ihm der Garten und die Gemeinschaft der Kinder vertraut geworden war, weitete sich sein Blick und fiel auf Felix, der hinter dem Fenster saß und hinunterblickte. Josh winkte ihm und Felix winkte zurück. „Komm doch runter und spiel mit!“, rief Josh. Felix winkte weiter, sagte jedoch nichts.
„Was ist mit ihm?“, fragte Josh Jule, die gerade auf ihn zulief. „Matschebeine, Matschebirne“ sagte Jule und grinste. Josh spürte, wie er wütend wurde auf Jule. „Du kriegst Matschenase, wenn du noch mal so was sagst“, schnaubte er, drehte sich um und ging weg.

Josh ging nach Hause in sein Zimmer. Der Junge hinter dem Fenster ging ihm nicht aus dem Kopf. Seine Mutter fragte besorgt: „Warum bist du nicht draußen bei den anderen Kindern? Haben sie dich geärgert?“ „Nein,“ sagte Josh, „aber da ist ein Junge, der drinnen sitzt und zuguckt und Jule hat gesagt er hat Matschebeine und Matschebirne. Er tut mir leid. Ich möchte sein Freund sein, damit er auch einen Freund hat und dazugehört.“
Die Mutter schüttelte den Kopf, „Josh, das ist Felix. Felix leidet an einer Muskelerkrankung. Er kann nicht laufen und nicht gut denken und wird sicher nicht lange leben.“ „Woher weißt du das?“ „Ich habe ihn gestern mit seiner Mutter in der Tiefgarage getroffen, als sie mit ihm vom Arzt kam. Er wohnt im Haus neben uns.“
„Wie heißt er mit Nachnamen?“, wollte Josh wissen.
„Du kannst ihm nicht helfen, Josh.“  sagte seine Mutter. „Spiel du mit den anderen und sei für Felix mit froh. Das ist das Beste, was du machen kannst.“ „Wie heißt er weiter?“, wiederholte Josh seine Frage.  „Er heißt Felix Lazar und wohnt in der 37 direkt neben uns … Aber Josh, du kannst ihm wirklich nicht helfen.“

Vom nächsten Tag an war Felix immer mit draußen bei den Kindern. Josh holte ihn jeden Tag ab, schob ihn beim Fangen und beim Versteckenspielen im Rollstuhl und versuchte, Bälle in Felix Schoß im Rollstuhl zu fangen. Was auch immer gespielt wurde, Josh und Felix verloren, weil sie zu zweit zu langsam und zu schwerfällig waren oder weil Felix nicht verstand, was er tun sollte.
Manche der anderen Kinder hänselten Josh und Felix, andere taten so, als seien die beiden gar nicht da und die Erwachsenen sagten: „Es ist ja toll, dass du Felix abholst, aber lass ihn doch am Rand stehen, damit du richtig mitspielen kannst. Du bist doch schnell, geschickt und pfiffig und kannst in vielem der Beste sein.“
Josh ignorierte die Bemerkungen und die Hänseleien und wenn ihn jemand ehrlich fragte, warum tust du das, sagte er ganz ernst, weil Felix mein Bruder ist und weil ich ihn liebe. Und wenn Felix das hörte, strahlte er Josh an und sagte Bruder, Bruder, Josh Bruder. Und das Strahlen in Felix Augen machte Josh glücklich.