Engel-Geschichte
Anna und Britta waren Nachbarinnen. Sie lebten seit vielen Jahren im selben Haus, Tür an Tür.
Beide waren über 80 Jahre alt und verwitwet. Früher, als ihre Männer noch lebten, hatten sie hin und wieder einen gemeinsamen Abend verbracht. Aber dann hatten sie sich beide zurückgezogen. Mittlerweile kannten sie einander kaum noch und sprachen nicht viel miteinander.
Anna nervte es, dass Brittas Fernseher immer so laut war. – Britta konnte schlecht hören.
Britta nervte es, dass die Treppe, wenn Anna mit dem Putzen an der Reihe war, oft nicht ganz sauber war. Anna konnte schlecht sehen. Da beide keinen Streit wollten, sagten sie nichts und gingen einander lieber aus dem Weg – bis zu jenem Donnerstag, von dem ich jetzt erzählen möchte.
Britta lief die Treppe hinunter, einen Müllsack in der Hand, den sie zur Tonne in den Hof bringen wollte. Anna, kam vom Augenarzt zurück, der ihre Pupillen weit getropft hatte, so dass sie noch schlechter sah als sonst. Beide waren in Gedanken und nahmen einander nicht wahr. So prallten sie auf der ersten Etage aufeinander und wären vielleicht beide gestürzte, wäre nicht just in diesem Augenblick die junge Frau Rauch aus ihrer Wohnung in den Hausflur getreten und hätte beiden stützend an den Arm gegriffen.
Britta und Anna brauchten einen Moment, sich von ihrem Schreck zu erholen und Frau Rauch fragte: „Ist alles in Ordnung oder haben Sie sich bei ihrem Zusammenprall verletzt?“ Anna sortierte sich kurz. Sie schien unverletzt. „Alles in Ordnung,“ sagte sie. Für Britta musste Frau Rauch die Frage noch einmal wiederholen. Doch dann sagte auch sie: „Alles gut. Ich bin heil geblieben.“
„Na, da haben Sie ja beide einen Schutzengel gehabt“, meinte Frau Rauch daraufhin und lächelte erleichtert.
„Schutzengel“, meine Britta bitter, „ja da könnte ich wohl einen brauchen, einen, der mich vor meiner Einsamkeit und den Gedanken, beschützt, die mich quälen, sobald ich allein bin.“
„Oh ja, so einen könnte ich auch brauchen“, stimmte Anna zu. „Du hast ja noch deinen Sohn, der von Zeit zu Zeit zu dir kommt, Britta. Ich habe, seit mein Mann tot ist, niemanden mehr. Aber dass es Engel gibt, ist ja doch nur ein frommes Märchen. Ich jedenfalls habe mit meinen 85 Jahren noch nie einen gesehen.“
„Ja, du hast recht. Ich habe meinen Sohn, der kommt und sich kümmert. Dafür kannst du zum Seniorenkreis und in Konzerte, ins Theater und überall hin gehen. Für mich hat all das keinen Sinn, weil ich so schlecht höre.“
Frau Rauch hatte schweigend zugehört. Nun sagte sie: „Ich stelle mir das Leben sehr schwierig vor, wenn man sich so alleine fühlt. Glauben Sie an Gott?“ Britta und Anna nickten beide. Haben Sie ihn schon einmal gebeten, Ihnen einen guten Engel zu schicken, der Sie aus Ihrer Einsamkeit befreit?“
„Nein,“ sagte Anna leise und Britta schüttelte den Kopf.
„Bitten Sie ihn, am besten gleich heute Abend.“, sagte Frau Rauch, verneigte sich kurz und lief dann leichtfüßig die Treppe hinunter in die Tiefgarage, wo ihr Auto stand.
Abends vor dem Zubettgehen erinnerte sich Anna an das Gespräch und sie setzte sich auf die Bettkante und betete. Zunächst betete sie nur für sich selbst, doch während sie betete, fielen ihr die Menschen ein, die ihr bislang geholfen, ihren Glauben gestärkt, Schutz und Heimat geboten und Liebe geschenkt hatten und ihr fiel auch Britta ein. Arme Britta, sie hat zwar einen Sohn, aber weil sie so schlecht hört, ist sie noch isolierter und einsamer als ich. Sie betete für Britta und während sie betete, stieg in ihr eine Idee auf: ‚Was wäre, wenn sie, Anna, zum guten Engel für Britta würde?‘ Und sie nahm sich vor, sorgsam auf Gelegenheiten zu achten, in denen das möglich sein könnte und bat Gott, ihr zu helfen, diese Gelegenheiten zu sehen und den Mut zu finden, darauf zu reagieren … Eine Idee für eine kleine nette Geste, hatte sie bereits.
Auch Britta betete am Abend. Zunächst betete sie nur für sich, ihren Sohn und seine Freundin, doch ganz allmählich, weitete sich ihr Blick und sie betete für alle Menschen die unter Kriegen, Naturkatastrophen und Gewalt leiden mussten. Mit einem Mal empfand sie große Dankbarkeit für ihr Leben, so wie es war. Es schien ihr so, als sei sie wirklich immer von einem guten Engel behütet gewesen. Sie dachte an das Gespräch und daran, dass Anna ja – anders als sie – kein Kind hatte, sondern ganz allein war und da kam ihr der Gedanke, dass sie, Britta, zu einem guten Engel für Anna werden könnte … und sie hatte auch schon eine Idee, was sie tun wollte.
Am nächsten Abend wären Anna und Britta beinahe wieder zusammengeprallt. Diesmal auf ihrer eigenen Etage, als sich beide voll Energie zur Tür der jeweils anderen aufmachten. Britta mit einem kleinen selbstgebackenen Kuchen, Anna mit einer Flasche Sekt.
… Und so verbrachten sie den Abend miteinander und redeten und redeten und es war der schönste, den beide seit langem erlebt hatten.
Zum Abschied umarmten sie einander und beide sagten nahezu gleichzeitig … „Danke, heute warst du ein guter Engel für mich.“ … und dann lachten sie von Herzen.
Zwei Wochen später fanden beide eine Einladung zum „Engel-Ballett“ mit der Künstlerin S. Rauch in ihrem Briefkasten.
‚Auch wenn ich nicht so viel von der Musik höre, sehe ich doch den Tanz‘ – sagte sich Britta und beschloss, die Einladung anzunehmen. ‚Auch wenn ich nicht viel vom Tanz sehe, so höre ich doch die Musik‘, dachte sich Anna. Und auch sie beschloss, die Einladung anzunehmen. So gingen beide miteinander in den Gemeindesaal und verbrachten einen wunderschönen Abend – und hörte und sahen viel mehr, als sie gedacht hatten.
Dankbar und glücklich buken sie gemeinsam Engelsplätzchen für Frau Rauch, die für sie beide zu einem guten Engel geworden war:
Von nun an trafen sie sich mehrmals in der Woche. Sie redeten miteinander über das, was sie beschäftigte, und immer auch darüber, wo ihnen im Alltag wieder einmal ein guter Engel begegnet war … und beiden fiel auf, wie viele gute Engel sie trafen, wenn sie nur achtsam waren und nicht wie früher in sich selbst verschlossen an allen vorbeiliefen.