Vater
Vor dem Bild der Gottesmutter flackerte eine einsame kleine Kerze.
Tränen rannen über Annas Wangen, während sie die einzigen Gebetsworte murmelte, die ihr aus ihrer Kindheit in Erinnerung geblieben waren. „Vater unser im Himmel …“
Wieder einmal hatte es Streit gegeben, furchtbaren Streit. Es war zum Bruch gekommen. Wieder war es um Michael gegangen. Ihren Michael, von dem sie nun ein Kind erwartete.
Vom ersten Tag an hatte Vater Michael verachtet. „Was willst du mit diesem Kerl. Schau dir nur seine Hände an. Arbeiterpranken!“ „Handwerkerhände“ hatte sie korrigiert, „gute Hände, die zupacken können, wo es nötig ist.“ „Arbeiterpranken, Bauernforken!“
„Und dann, wie er spricht! Wie ein Bauer: Ja, Nein, Weiß ich nicht. Der kann dir doch nie und nimmer das Wasser reichen!“
Sicher, Vater wollte nur das Beste für sie oder zumindest das, was er dafür hielt: „Einen Mann, der dir ein sorgloses Leben in guter Gesellschaft ermöglichen kann, einen Arzt, einen Anwalt oder einen Banker, von Familie, mit Bildung und Geld – kurz: einen Mann mit Niveau, möchte ich für meine Tochter.“ Wieder und wieder hatte er versucht, sie mit Ben, dem Sohn seines Geschäftspartners, einem echten von Papenbrück, zusammenzubringen. Anna konnte Ben nicht ausstehen. Er war so glatt, so profillos, so … geruchlos. Ja wirklich, außer nach teurem Rasierwasser, roch er nach nichts. Er war so … so wenig … ja was denn … so wenig echt und so wenig wirklich da.
Michael war da ganz anders. Er roch immer nach irgendetwas – nicht immer gut, aber immer echt – und was er sagte, war einfach und hatte Hand und Fuß und … er konnte schweigen. Wenn es nichts gab, was der Rede wert war, dann schwieg er, stundenlang, tagelang, bis es wieder etwas zu sagen gab. Unbegreiflich für Vater, der stets Konversation pflegte!
Und nun Michaels Ausraster am Mittag. Michael hatte die Contenance verloren – Contenance – eines von Vaters Lieblingswörtern. Aber war es ein Wunder, dass Michael explodiert ist, so wie Vater ihn provoziert hat?
„Der Herr will also Vater werden? Vater meines Enkels?“ hatte er mit spöttischem Lächeln begonnen. „Wovon denn? Vater werden, das muss man sich leisten können, junger Mann. Das geht nicht mal eben so einfach! Wo ist denn bitteschön das Kinderzimmer in eurer winzigen Hucke. Und wo soll der Kleine spielen mitten in der Stadt zwischen all den Abgasen. Und was für ein Vorbild wird er in seinem Vater haben, einem arbeitslosen Schreiner, Sohn eines Säufers und einer Putzfrau!“ – Vater spuckte die Worte fast hin – „Haben Sie über all das einmal nachgedacht, junger Mann? Vater werden! Pah“
„Arbeit werde ich haben, bis Ettchen auf der Welt ist und für meinen Vater kann ich nichts!“ „Das wird mein Enkel auch einmal sagen müssen!“ Da ist Michael in die Luft gegangen. „Nichts verstehen Sie, Herr Baron, gar nichts!“ hatte er gebrüllt! „Vater wird man nicht durch ´nen dicken Geldbeutel und auch nicht durch ’nen tollen Job und wer weiß was für ’n Ansehen. Vater wird man mit dem Herzen! Falls Sie wissen, was das ist!“ Dabei hatte er mit der Faust auf den Tisch geschlagen, dass die Suppe aus den goldgeränderten Rosenthal-Tellern schwappte, hatte die Serviette – die gute handbestickte Sonntagsleinenserviette – mitten in die Ochsenschwanzsuppe auf seinem Teller geworfen und war grußlos hinausgestapft. Sein alter Ford Transit hatte aufgeheult und fort war er.
Danach war das Unwetter losgebrochen. Wie immer kein Gebrüll, keine Kraftausdrücke sondern wohl gewählte kühle Worte, beinahe sachlich, doch mit beißender Ironie im Untergrund. Nur Vater hatte geredet. Ihre Antworten schien er bereits zu kennen und hatte sie direkt in seinen Monolog eingeflochten und eine nach der anderen entkräftet. Ja, Vater war ein glänzender Redner, ein Mann von Format, gebildet, geschickt und, wo es sein musste, sogar diplomatisch. Sie schwieg beharrlich. Früher hätte sie diskutiert, argumentiert, um Verständnis geworben, so wie sie es gelernt hatte, aber das war früher, vor Michael, vor ihrer Entscheidung, endlich sie selbst zu werden. Sie schwieg.
Am Ende die Frage: Michael oder die Familie, das Gut, der Name, die lange Tradition, das Geld, die Pferde und all die Annehmlichkeiten und nicht zuletzt die Großmutter, die sie als Kind so geliebt hatte und die nun auf dem Kirchhof in der Familiengruft lag, die Großmutter, die sich im Grab herumdrehen würde, sähe sie, wie ihre Enkelin ihr Glück verspielte. Nichts hatte Vater vergessen, in die Waagschale zu werfen. Alle hatten Sie angeblickt, erwartungsvoll, siegessicher.
Sie war aufgestanden, langsam, wie im Traum. Hatte ihren Stuhl zurückgeschoben. War zur Tür gegangen, alles langsam und ruhig. Hatte sich knapp verneigt und ganz schlicht „Ade“ gesagt.
Dann war sie gegangen. Aus dem Haus hinaus, durch den Garten, den Feldweg entlang in Richtung Wald und dann immer weiter bis zur alten Waldkapelle. Seit sie sieben war und Großmutter plötzlich tot war, war sie nicht mehr hier gewesen. Großmutter hatte sie oft mit hierher genommen. Unterwegs hatte sie ihr Geschichten von einem Vater erzählt, der im Himmel wohnt und alle Menschen lieb hat, auch dann noch, wenn sie ganz dumme oder böse Dinge tun und der allen helfen will, glücklich und frei zu sein. Von einem Vater, der sich freut, wenn ein Kind einsieht, dass es etwas falsch gemacht hat und der ihm hilft, es besser zu machen. Von einem Vater, der jeden liebevoll in den Arm nimmt, der zu ihm kommt. Anfangs hatte Anna gedacht, Großmutter meine Urgroßvater Hubertus, der gestorben war, als Großmutter noch ein kleines Mädchen war, und sie hatte Großmutter sehr um diesen wunderbaren Vater beneidet. Ihrer war doch immer so streng und alles musste gut gelingen und wenn sie etwas nicht wusste oder konnte, schüttelte er den Kopf, mahnte sie, sie müsse sich mehr Mühe geben und vertiefte sich dann in seine Arbeit oder in sein Buch. Erst kurz vor Großmutters Tod hatte Anna begriffen, dass Großmutter nicht Hubertus, sondern Gott meinte, wenn sie von diesem Vater im Himmel sprach, und dass sie sich sehr darauf freute, bald bei ihm sein zu dürfen.
Vater unser im Himmel … Wieder und wieder betete sie diesen Satz. Vater unser im Himmel. Mein Vater, der Vater von Großmutter, der Vater von Vater, von Michael und von unserem Ettchen.
Ja Michael, unser Ettchen hat zwei Väter! Mit einem Mal musste sie lächeln. Die Traurigkeit war verflogen. Vater unser im Himmel …
– Michael – Vater wird man mit dem Herzen!
– Vater
Vater unser im Himmel…
Die Kerze flackerte. Jemand öffnete die schwere Holztür zur Kapelle und trat ins Dunkel hinter sie.
Vater unser im Himmel …