Das Gastmahl des Königs
Es war einmal ein großer König, der sein Volk über alles liebte.
So lud er sein ganzes Volk zu einem großen Gastmahl ein und da er jeden der Gäste ganz genau kannte und wusste, was er am besten verträgt, bereitete er für jeden einzelnen eine ganz besondere, einzigartige Speise zu.
Die Plätze im Festsaal verteilte er so, dass jeder in der Gemeinschaft der Gäste sitzen sollte, die ihm gut täten und wegweisend für sein Leben seien.
Auch sollten alle Gäste mit ihren Gaben und Fähigkeiten zum Gelingen des Gastmahls beitragen. Die eine sollten musizieren, andere tanzen, wieder andere Geschichten erzählen oder kurze lehrreiche Vorträge halten, andere wiederum sollten aufmerksam zuhören und die Künstler mit Lob und Applaus ermutigen, und noch andere sollten den alten und kranken Gästen, die nicht gut alleine zurecht kommen, zur Hand gehen. So war jedem eine wichtige Aufgabe zugedacht.
Der König freute sich auf seine Gäste, denn er liebte jeden einzelnen von ganzem Herzen.
Als die Gäste kamen, fanden sie den Saal festlich geschmückt und vom Duft der köstlichsten Speisen erfüllt. Kaum aber war die erste Freude verflogen, da begannen einige der Gäste zu nörgeln. Mein Platz ist zu dunkel, monierte der erste und setzte sich einfach auf einen anderen Platz näher am Fenster. Ich sitze zu weit entfernt von den wichtigen Leuten, meinte ein zweiter, und auch er nahm kurzerhand einen anderen Platz weiter oben an der Tafel ein. So taten es einige andere auch. Die Gäste, denen die Plätze eigentlich zugedacht waren, mussten nun mit anderen Plätzen vorlieb nehmen. Zwar ärgerte den großen König das Verhalten seiner Gäste, doch sagte er sich, sie sind wie Kinder und verstehen es nicht besser. Wir wollen es ihnen nachsehen und das beste daraus machen. So wollen wir ihnen nicht ihr Verhalten, wohl aber die Teller mit den ihnen zugedachten Speisen nachtragen. Und der König beauftragte seine Diener, die Teller zu tauschen, so dass jeder die ihm zugedachte Speise bekäme.
Nachdem dies geschehen war, bat der große König seine Gäste um einen Moment der Stille, denn er wollte die Speisen segnen. Indes – so oft er auch bat – das Lärmen und Schwätzen seiner Gäste hörte nicht auf, so dass viele seinen Segen nicht hörten. Das machte den großen König traurig, denn der Segen war ihm sehr wichtig – nicht etwa, weil er sich so wichtig nahm, sondern weil er wusste, wie bedeutsam dieser Moment der dankbaren, stillen Hinwendung zu den Gaben des Augenblicks für seine Gäste gewesen wäre. Wieder sagte er zu sich, wir wollen es ihnen nicht nachtragen, denn sie sind wie lärmende, spielende Kinder und verstehen es nicht besser.
Noch bevor er allen einen guten Appetit wünschen konnte, machten sich die ersten gierig und achtlos über ihre Speisen her und verlangten, nachdem sie alles verschlungen hatten, ungeduldig nach mehr.
Andere schauten misstrauisch auf ihre Teller und äugten neidisch auf die Speisen ihrer Nachbarn, die ihnen leckerer und erlesener erschienen. Und schon ging in einem unbeobachteten Moment die Gabel des einen auf den Teller des andern und fischte sich einen dicken Brocken besten Fleisches. So geschah es auf vielen Plätzen. Manche der Bestohlenen schienen es gar nicht zu bemerken und aßen genüsslich weiter von dem, was ihnen blieb. Andere jedoch empörten sich und versuchten nun ihrerseits, den Teller des diebischen Nachbarn zu plündern. Wieder andere fingen an, den Nachbarn zu schlagen, nachdem sie festgestellt hatten, dass nichts von seinem Teller den Verlust des von ihm geraubten Bissens auszugleichen vermöchte. So entstand viel Unruhe an den Tischen und während einige sich balgten, machten sich andere über deren im Stich gelassene Teller her. Einige wenige jedoch hielten ihre Teller den Dieben hin und sagten: Sieh her, du bist wohl hungriger als ich. Also bediene dich und iss. Noch andere – wiederum sehr wenige – achteten darauf, ob da jemand sei, dem alles ohne seine Schuld geraubt worden war und teilten ihre Speisen mit ihm.
Statt des wunderbaren Gastmahls, das der König angeboten hatte, gab es ein wildes Durcheinander, in dem sich manche völlig überaßen, so dass ihnen unwohl wurde, während andere beinahe leer ausgingen. Die wenigsten aber erhielten genau die Speisen in genau dem Maße, wie es ihnen der König zugedacht hatte. Als nun alle gegessen hatten und die Teller abgetragen waren, sollten die Darbietungen beginnen. Kaum war die erste Gruppe der Flötenspieler auf die Bühne getreten und hatte ihr Spiel begonnen, mischte sich einer derer, die eigentlich zum Tanzen bestellt waren, unter sie und entriss mit den Worten „Ich sehe es ja überhaupt nicht ein, nach eurer Flöte zu tanzen, ich will und kann selber flöten!“ dem nächstbesten Spieler die Flöte und blies unbeholfen und schief in sie hinein. Einige der anderen Flöter wurden dadurch völlig aus dem Takt und dem Rhythmus gebracht und waren nicht in der Lage, die Fülle ihres Könnens zu zeigen und die Gäste so zu erfreuen, wie sie es eigentlich gewünscht und gehofft hatten. Andere jedoch spielten unverdrossen weiter, so dass der Auftritt nicht völlig misslang. Bei den Tänzern, die sich nach einigen Stücken hinzugesellten und anmutig und flink zu den Flötentönen bewegten, fehlte der selbst ernannte Flöter, so dass auch ihre Choreographie nicht in vollem Maße zur Geltung kommen konnte. In seiner Not, versuchte der Flöter, dem das Instrument brutal entrissen worden war, die entstandene Lücke zu füllen, merkte jedoch nach wenigen Schritten, dass er zum Flöten, nicht aber zum Tanzen geschaffen war, und setzte sich still in die Reihen der Zuhörer. Ja, wären es doch nur wirklich Zuhörer gewesen. Viele von ihnen schwatzten während der Darbietungen über dies und das und liehen den Künstlern nur gelegentlich herablassend ein halbes Ohr. Andere hörten mit angespannter Aufmerksamkeit zu, nicht etwa, um die Kunst zu würdigen – nein, darum ging es ihnen nicht. Sie waren neidisch und suchten, Fehler zu entdecken. Manche behaupteten scheinheilig von sich: Wir wissen schon, warum wir uns damit begnügen, Zuhörer zu sein. Nie wären wir so anmaßend, so etwas, wie das Dargebotene als Kunst anzubieten. Dass sie damit die ihnen zugedachte wichtige Rolle des Zuhörers gleich in doppelter Weise verrieten, merkten sie nicht. Manche der Künstler wurden durch solche Worte so verunsichert und verängstigt, dass sie ihr Instrument in die Ecke legten und fortan nicht mehr zu spielen wagten. Das alles machte den großen König sehr traurig und wer weiß, vielleicht wäre diese Traurigkeit in maßlose Wut umgeschlagen, hätte es nicht einige wenige unter den Gästen gegeben, die dankbar und zufrieden zuhörten, den Künstlern nach jedem Stück und nach gelungenen Soli applaudierten und sehr genau zu sagen vermochten, welche Passagen sie für besonders gelungen hielten und wo es vielleicht beim nächsten Mal noch besser sein könnte, was es vielleicht auch diesmal schon gewesen wäre, hätten die Störenfriede nicht dazwischengefunkt. Ja es gab sie, die genau das taten, was der König ihnen zugedacht hatte. Und jeder von ihnen spürte, dass es genau so richtig und gut war. Diejenigen die gehorsam zuhörten, spürten nach einiger Zeit, wie kostbar und wichtig dieses Zuhören für sie selbst und alle anderen war, denjenigen die musizierten, ging es in ihrem Bereich nicht anders, ebenso den Tänzern und Erzählern. Alle, die sich auf die ihnen zugewiesene Rolle einließen, zogen großen Gewinn daraus – leider waren das sehr wenige. Die Zahl derer, die mit dem, das ihnen zugedacht war, unzufrieden waren und auf eigene Faust versuchten, ihren Gewinn aus der Feier zu optimieren, war weit größer. Und diese vielen wunderten sich, warum es ihnen nie gut ging.
… Wie dumm diese Gäste waren, mag manch einer nun denken. Alles ist gut arrangiert und maßgeschneidert bereitet. Sie aber verstehen es nicht und führen nur Unheil herbei. Wir würden es besser machen!
Nun: Der König gibt heute sein Gastmahl und die Gäste sind wir.