Lisas Lied

Es war an einem sonnigen Julitag, als mitten in einer großen Stadt ein kleines Mädchen geboren wurde – Lisa. Lisas Mutter hatte sich entschieden, ihr Töchterchen mit Hilfe einer Hebamme zu Hause zur Welt zu bringen, so wie es schon ihre Mutter, ihre Großmutter und die ganze lange Reihe ihrer Ur-, Ur-Ur-, usw. Großmütter getan hatten.

Als die Hebamme das Kind nun in ihren Händen hielt und Lisa den ersten Schrei ihres Lebens tat, mischte sich in diesen Schrei noch ein anderer Laut. Vom Balkon der Wohnung her erklang ein bezaubernder Gesang. Langsam und widerstrebend löste sich Lisas Vater vom Anblick seiner kleinen Tochter und ging dem Gesang nach. Da sah er auf dem Geländer des Balkons einen wunderschönen buntgefiederten Vogel sitzen, einen Vogel, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er dachte sich, dass dieser Vogel wohl sehr kostbar und einem Nachbarn entflogen sein müsse. So beschloss er ihn vorsichtig einzufangen um ihm seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. Mit einem Tuch in der Hand, das er über den Vogel werfen wollte, öffnete er leise und sehr behutsam die Balkontür. Kaum aber stand die Türe offen, flatterte der seltsame Gast an dem verblüfften Mann vorbei in die Wohnung hinein, flog dort ein wenig hin und her, als sei er auf der Suche nach etwas und ließ sich dann – wie selbstverständlich – auf dem Rand von Lisas Wiege nieder. Und während die kleine Lisa zum ersten mal in ihrem Leben gewaschen, gewickelt und angekleidet wurde, während sie zum ersten Mal nach der Brust ihrer Mutter suchte und ein paar Tröpfchen Vormilch nuckelte, sang der Vogel erneut sein Lied. Er sang so schön, dass die Familie beschloss, ihn zu behalten und nicht weiter nach seinem Besitzer zu suchen und weil er so wunderschön musizierte gab man dem Vogel den Namen Mozart.

Mozart wurde in einen großen Käfig gesetzt und da seine Gegenwart Lisa sehr zu beruhigen schien, stand der Käfig fortan auf der Kommode neben ihrer Wiege. Jeden Morgen, wenn Lisa erwachte und immer, wenn sie schrie, weil sie hungrig war, sich alleine fühlte oder einfach nur die Nähe ihrer Mutter spüren wollte, begann der Vogel sein Lied und gleich hörte Lisa auf zu schreien und lauschte dem Gesang. Es war wirklich ein ganz besonderes Lied, das der Vogel sang, ein Lied, wie es noch nie zuvor ein Mensch gehört hatte. Ein Lied ohne Worte, in dem doch alle Worte der Welt enthalten schienen. Ein Lied, das die ganze Welt, alles Frohe und Helle, alles Traurige und Dunkle, den Frieden und den Streit, die Angst und die Liebe, den Sommer, den Herbst, den Winter den Frühling, alles zu umfassen und zu besingen schien.

Als Lisa älter wurde und allmählich anfing, sprechen zu lernen, zeigte sie eines Tages auf den Vogel und sagte mit jener Bestimmtheit, die nur Kindern zueigen ist: „Lisa“. Ihre Mutter lachte: „Nein mein Schatz, das ist Mozart. Du bist doch die Lisa.“ Lisa aber beharrte darauf, dass der Vogel genau wie sie Lisa heiße und auch später, als sie schon fast alles sprechen und vieles verstehen konnte, weigerte sie sich hartnäckig, den Vogel Mozart zu nennen.

Lisa bestand nun darauf, sich selbst um ihren Vogel zu kümmern. Sie fütterte ihn täglich, gab ihm frisches Wasser und reinigte zusammen mit ihrem Vater regelmäßig den Käfig. Oft saß sie lange neben dem Vogel und hörte andächtig seinem Lied zu, das er immer wieder für sie sang, und wenn sie schlief, fühlte sie die Melodie des Liedes in sich schwingen.

Lisa war nun sechs Jahre alt und es war Zeit für sie, in die Schule zu gehen. Es kostete ihre Eltern viel Geduld und Nerven, ihr klarzumachen, dass sie ihren geliebten Vogel dort nicht mit hinnehmen dürfe. Zwar kam Mozart auch nicht mit auf den Spielplatz oder zu Lisas Freundin Mia, aber das war, so fand Lisa, etwas ganz anderes. Die Schule machte ihr Angst und da musste ihr Vogel mit. Erst als der Vater ihr erklärte, dass es in der Schule viel zu laut für Mozart sei und dass er dort bestimmt sehr unglücklich sein würde, weil er ja während des Unterrichts still sein müsse und nicht singen dürfe, war Lisa damit einverstanden, Mozart zu Hause zu lassen. Zugleich beschloss sie jedoch auch, dass die Schule kein guter Ort sei. Ein Ort an dem es zu laut für Vögel ist und an dem man nicht singen darf, wenn ein Lied in einem ist, kann kein guter Ort sein, so dachte sie. Nach den ersten Tagen jedoch mochte Lisa die Schule, denn es gab dort viel zu lernen und zu lachen und die Aufgaben fielen ihr leicht, so leicht, dass sie fast die ganze Zeit nebenbei noch an ihren Vogel denken und in ihrem Kopf sein Lied summen konnte. Auf jedem Bild, das Lisa malte, war in irgendeiner Ecke der Vogel mit seinen roten, gelben, blauen und goldenen Federn zu sehen. Und wenn Lisa mittags nach Hause kam und ihre Hausaufgaben machen musste, setzte sie sich neben den Käfig, der Vogel sang sein Lied und Lisa fühlte sich wohl und geborgen in sich.

Nach und nach jedoch wurden die Aufgaben immer schwieriger und nahmen immer mehr Zeit und Gedanken in Anspruch. Die Mutter war der Ansicht, dass es an der Zeit sei, dass Lisa ein wenig im Haushalt mithelfe und gab ihr jeden Tag kleine Aufgaben, die sie zu erledigen hatte. Lisas Nachmittage waren damit angefüllt, mit all den vielen Kindern, die sie in der Schule kennenlernte, auf der Straße zu spielen oder zum Schwimmen zu gehen. Es galt sich in ihrem Kreis zu behaupten.

All diese neuen Anforderungen, Pflichten und Erwartungen, die an sie gestellt wurden und die Lisa auch an sich selbst stellte, nahmen Lisa so in Anspruch, dass sie nur noch abends vor dem Schlafengehen und manchmal zwischendurch an Regentagen die Ruhe fand, ihrem Vogel zuzuhören. Je älter Lisa wurde und je mehr die Gesellschaft, in der sie lebte, sie in ihren Bann zog, desto seltener wurden die Augenblicke, in denen sie den Vogel und sein Lied, das er auch jetzt noch unbeirrt sang, bewusst wahrnahm. Nach und nach wurde sie sogar in der Versorgung ihres Vogels nachlässig. Der Käfig wurde nicht mehr so oft gesäubert, das Wasser nicht mehr täglich gewechselt. Lisa bemerkte nicht, dass der Vogel traurig aussah und sein Lied immer leiser sang.

Eines Morgens, Lisa war nun schon fast erwachsen, wachte sie auf und fühlte sich müde und leer, fast ein bisschen krank – nicht fiebrig oder erkältet, nein anders und unbekannt. Sie lauschte in die Stille und plötzlich fiel ihr auf, dass sie schon lange nicht mehr das Lied ihres Vogel vernommen hatte. Sie wusste, würde sie es jetzt hören, würde es ihr sofort viel besser gehen. Langsam stand sie auf und ging zum Käfig … und erschrak. Die Käfigtür stand offen und der Vogel war fort. Panisch rannte sie durchs Haus und rief nach Lisa, doch der Vogel war und blieb verschwunden. Lisa rannte auf die Straße, blickte an jedem Baum und Haus hinauf und rief unentwegt ihren Vogel. Sie lief in den nahegelegen Park und suchte dort den ganzen Tag nach ihrer „Lisa“. Sie fühlte sich so leer und einsam. Wie hatte sie den Vogel nur so vernachlässigen können! Früher hatte sie immer über Menschen den Kopf geschüttelt, die das, was sie hatten erst dann zu schätzen wussten, wenn es verloren war. Nun erging es ihr genauso. Diese Erkenntnis traf sie bitter.

Gegen Abend gelangte sie in einer entlegenen Ecke des Parks an einen kleinen Tümpel, der ihr noch nie aufgefallen war. Sie setzte sich auf eine Bank, blickte in das trübe Wasser und die ganze Welt schien ihr grau. Weder sah sie das saftige helle Grün des Grases, noch das dunklere der Bäume noch roch sie den Duft der vielen Wiesenblumen und Sträucher. Die Traurigkeit hatte so Besitz von ihr ergriffen, dass sie in nichts mehr etwas Schönes oder einen Grund zur Freude entdecken konnte. Selbst das friedlich-dumme Gequake der Enten wurde in ihren Ohren zu höhnischem Gelächter.

Allmählich senkte sich Dunkelheit über den Park. Eine innere Stimme mahnte Lisa nach Hause zu gehen. Ihre Eltern würden sich sonst sorgen und der Park war nachts kein sicherer Ort für junge Frauen. Lisa ignorierte diese Mahnungen. Wie versteinert saß sie da, unfähig, sich zu rühren. Nicht einmal die Tränen, die nun über ihre Wangen rollten, wischte sie ab.

Plötzlich, es musste schon mitten in der Nacht sein, denn nur der Mond, rund und voll erleuchtete den Park ein wenig, schreckte Lisa auf. Sir musste über all ihrer Trauer wohl doch ein wenig eingenickt sein, denn sie hatte das Kommen der alten Frau, die nun neben ihr auf der Bank saß und sie nachdenklich betrachtete nicht bemerkt. Blitzschnell schossen Lisa all die Märchen von bösen Hexen, die sie in ihrer Kindheit gehört hatte, durch den Kopf. Wer war die Alte, was tat sie hier mitten in der Nacht im Park und warum hatte sie sich ausgerechnet auf ihre Bank gesetzt. Lisa wollte aufspringen und fortlaufen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Wie festgewachsen saß sie auf der Bank, in eben derselben Versteinerung, die sie schon am Abend daran gehindert hatte, aufzustehen und heimzugehen. Als die Alte gewahr wurde, dass Lisa aufgewacht war, fasste sie sie sanft ihren Arm, blickte ihr ruhig in die Augen und sagte mit einer Stimme, die alles andere als furchteinflößend war und Lisa auf seltsame Art vertraut vorkam: „Guten Abend, Lisa. Es freut mich, dass du dich nun endlich auf die Suche nach „Lisa“ begeben und dass du den Weg hierher gefunden hast. Ich habe dich hier schon länger erwartet.“ „Woher weißt du, wer ich bin und was weißt du von meinem Vogel und wer bist du überhaupt?“, stotterte Lisa und ein Teil ihres Gehirns registrierte erstaunt, dass sie die Alte einfach duzte.

„Das sind gleich drei Fragen auf einmal und für alle drei trägst du die Antwort längst in dir.“, antwortete die Alte lächelnd. „Komm mit, der Weg ist lang und dunkel, aber ich werde dich zu den Antworten führen.“ „Ja aber,“ setzte Lisa an, aber die Alte war schon aufgestanden, reichte Lisa die Hand und flüsterte: „Schweig jetzt, du wirst mehr sehen und verstehen, als alle Worte der Welt dir sagen können.“ Wie von einer magischen Kraft gezogen stand Lisa auf und folgte der Alten. Lange gingen sie durch einen dunklen Wald, von dem Lisa sicher wusste, dass er eigentlich nicht an den Park grenzte. Nur das Mondlicht, das hier und dort durch die Wipfel der hohen Bäume schien, ließ spärliche Konturen von Bäumen und Felsen erkennen. Der Weg war gewunden und steinig und aufgrund der Dunkelheit stolperte Lisa mehr, als dass sie ging. Der Alten hingegen schien die Gegend vertraut zu sein. Sicher und für ihr Alter erstaunlich flink setzte sie einen Fuß vor den anderen. Hier und da stutzte Lisa, denn einige Konturen, die sie erahnte, erinnerten sie an etwas, ihr wollte jedoch bei keiner einfallen, woran. Schließlich hielt sie das Schweigen nicht mehr aus und fragte die Alte schüchtern: „Ist der Weg noch weit? Und wohin gehen wir eigentlich?“ Die Alte nickte bedächtig und murmelte mehr zu sich als zu Lisa: „Ja, Mädchen, hast dich weit entfernt in den letzten Jahren und bist viel durchs Dunkle gegangen.“ Nach diesen Worten fühlte sich Lisa nicht schlauer als zuvor, doch spürte sie, dass ein Sinn in dieser Antwort lag, den sie gerne verstehen wollte. Nachdenklich ging sie weiter. Von Schritt zu Schritt fühlte sie die Leere und die Verlassenheit deutlicher, die sie am Morgen angesprungen hatten und ihr wurde bewusst, wie lange sie schon mit dieser Leere gelebt hatte, ohne sie wirklich zu bemerken. Der Wald um sie herum schien nichts anderes zu sein, als äußeres Ebenbild der Einsamkeit und Dunkelheit in ihr., schien mit ihr eins zu werden, zu verschmelzen und Lisa glaubte, sich noch nie so elend und verlassen gefühlt zu haben. Schließlich hatte sie nur noch den Wunsch, endlich dieser Dunkelheit zu entrinnen.

Ganz allmählich wurde der Wald lichter. Der Mond schien immer häufiger durch die Wipfel und beleuchtete den Weg. Dann hörte der Wald ganz auf und sie standen wieder vor einer Bank an einem Tümpel und dieser Tümpel sah ganz genauso aus, wie der , an dem Lisa die Alte getroffen hatte. Alles befand sich am selben Ort und doch war alles ganz anders. Das Wasser war nicht trüb und grau. Es glänzte klar im hellen Schein des Mondes. Ab und zu quakte eine Ente durch die Nacht und der Duft von unzähligen Blumen und Sträuchern erfüllte den Ort. Die Alte zog Lisa auf die Bank. Lange saßen sie so da und schwiegen, ohne dass dieses Schweigen etwas Bedrückendes an sich hatte, bis Lisa plötzlich von ganz fern das vertraute Lied ihres Vogels vernahm. Sie wurde ganz aufgeregt und wollte dem Gesang entgegenlaufen, doch wusste sie nicht, nach welcher Richtung sie sich wenden sollte. Das Lied schien von überall her zu erklingen. Der Gesang wurde nun immer klarer und deutlicher, bis Lisa schließlich ein lautes Flattern hinter sich vernahm und der Vogel sich auf ihrer Schulter niederließ, wie er es seit den Tagen ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte. Da saß er nun und sang und während er sang, wich alle Einsamkeit von Lisa und wo Leere in ihr geherrscht hatte, nahm nun wieder das leise Summen und Schwingen der Melodie seinen Platz ein.

Nach langer Zeit, die Nacht war längst gewichen und die ersten Strahlen der Morgensonne berührten den Teich, stand die Alte auf, fasste Lisa bei der Hand, führte sie zum Wasser und forderte sie auf, hineinzusehen. Lisa gehorche … und plötzlich verstand sie. Sie sah drei Spiegelbilder. Das der Alten, das des Vogels und ihr eigenes, sah die drei ineinander verschmelzen, bis plötzlich nur noch ein einziges zu sehen war – ihr eigenes. In diesem aber blickte sie durch ihre Augen, Züge und Bewegungen hindurch die Gestalt der Alten, durch den Glanz ihrer Haare schien das Leuchten von Lisas Gefieder zu schimmern und wenn ein leiser Wind die Wasseroberfläche kräuselte und die Konturen verschwammen, so sah sie darin das Schwingen von Lisas Lied.

Sie erwachte in ihrem Bett und das Sonnenlicht schien durch das Fenster. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder frei und glücklich. Lisas Lied klang in ihr. Sie stand auf und ging zu Lisas Käfig. Ein jäher Schmerz durchfuhr sie, als sie den Vogel tot am Boden liegen sah … Doch Lisas Lied klang von nun an immer in ihr nach.